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Peter Brotschi ist als freier Journalist tätig, vor allem im Bereich Aviatik. Der ehemalige Kantonsrat ist Präsident des Verbandes «Bürgergemeinden und Wald Kanton Solothurn» (BWSO). Foto: zVg

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«Ein Gesetzesfossil wird heute oft überstrapaziert»

Die Bevölkerung der Schweiz hat sich verdreifacht, seit das Betretungsrecht des Waldes im Schweizerischen Zivilgesetzbuch geregelt wurde. In der Zwischenzeit hat sich nicht nur die Bevölkerungszahl, sondern auch das Freizeitverhalten hierzulande massiv verändert. Es gilt, die Regeln einzuhalten.

Ganz zu Beginn sei es klar festgehalten: Dass alle Menschen den Schweizer Wald betreten dürfen, ist von mir nicht bestritten. Es ist ein grosses Gut der Freiheit in der Eidgenossenschaft, dass alle zu jeder Zeit den Wald betreten dürfen. Das ist längst nicht überall auf der Welt so.

Das Betretungsrecht des Waldes ist im Schweizerischen Zivilgesetzbuch geregelt. Dort heisst es unter Artikel 699: «Das Betreten von Wald und Weide und die Aneignung wildwachsender Beeren, Pilze und dergleichen sind in ortsüblichem Umfange jedermann gestattet, soweit nicht im Interesse der Kulturen seitens der zuständigen Behörde einzelne bestimmt umgrenzte Verbote erlassen werden.»

So der Gesetzestext. Das Zivilgesetzbuch wurde von der Bundesversammlung am 10. Dezember 1907 beschlossen und auf den 1. Januar 1912 in Kraft gesetzt. In der Schweiz ist in diesem langen Zeitraum weder gesellschaftlich noch wirtschaftlich noch kulturell ein Stein auf dem anderen geblieben. In der Eidgenossenschaft von 1907 flogen noch keine Flugzeuge, und die wenigen Autos fuhren über weitgehend unbefestigte Strassen. Es existierte zwar bereits eine starke Industrie, aber ganze Landstriche und Kantone waren noch von bäuerlichem Leben geprägt. Die Dörfer bildeten sich aus Ansammlungen von Landwirtschaftsbetrieben, die beim heutigen Betrachter von Bildern aus dieser Zeit ballenbergische Gefühle aufkommen lassen. Die riesigen überbauten Flächen der «Agglo-Hüsli-Schweiz» von 2023 sucht man zu Beginn des 20. Jahrhunderts vergebens.

3,8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählte die Schweiz von 1907. Vor diesem Hintergrund war es für das eidgenössische Parlament ein Einfaches, den Menschen das Betretungsrecht des Waldes einzuräumen. Erstens war die Bevölkerungsdichte gering, und zweitens ging man in aller Regel nur in den Wald, um zu arbeiten oder zu sammeln. Die Industriearbeiter hatten bei einer Sechstagewoche kaum den Wunsch, sich in der knappen Freizeit noch gross zu bewegen. Nicht selten wartete nach der Arbeit zu Hause sowieso noch ein kleiner Bauernhof oder ein «Pflanzblätz». Am Sonntag besuchte man den Gottesdienst und Feste, nicht den Wald.

Neun Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählt die Schweiz heute! Tendenz steigend. Zudem sind wir in der Rund-um-die-Uhr-und-das-ganze-Jahr-Freizeitgesellschaft angekommen. Und dieser stehen enorme technische Möglichkeiten zur Verfügung: Elektrobike statt eines Eingangvelos mit Rücktritt, GPS statt Landeskarte. Die höher gewordene Bevölkerungsdichte lässt den Wunsch nach Ruhe und Natur aufkommen. Der Wald bietet dies: Hier tummeln sich die Naturliebhaber, Jogger, Biker, Freizeitbrätler, Freiluftpartyfreunde, Spaziergänger, Wanderlustigen und Pferde-
sportler. Sie treffen unter dem Blätterdach auf solche, die schon seit Beginn der Menschheitsgeschichte im Wald sind, auf die Holzer und die Jäger. Nicht selten müssen die Letztgenannten dann gegenüber den Waldneulingen ihr Tun erklären oder gar rechtfertigen. Zudem tauchen stets neue Trends auf wie etwa das Geocaching und das Abrichten des Familienhunds zum Trüffel-Schnüffler.

Wie eingangs gesagt, das freie Betretungsrecht des Waldes ist nicht bestritten. Hingegen gilt es, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Schweiz von 1907 nicht mehr zu vergleichen ist mit der Schweiz von heute. Die Väter (ja, damals waren es nur Männer) des Zivilgesetzbuches konnten wohl in den kühnsten Vorstellungen kaum die heutigen technischen Möglichkeiten und die Bevölkerungsentwicklung erahnen. Artikel 699 ZGB ist ein 116-jähriges Fossil einer Gesetzesbestimmung. Diese Norm erlebt gegenwärtig einen Stresstest, ja, wird in siedlungsnahen Gegenden sogar überstrapaziert. Deshalb ist Rücksichtnahme und Respekt der Erholungssuchenden gegenüber der Fauna und Flora des Waldes angesagt. 

Zudem kann das freie Betretungsrecht nicht ein Laisser-faire im Sinne einer Allmende sein, sondern benötigt die strikte Einhaltung von Regeln. Nur so ist die Zukunftsfähigkeit dieser Bestimmung gewährleistet, ohne dass noch mehr «umgrenzte Verbote» ausgesprochen werden müssen. Im Weiteren muss sich die Polizei vermehrt um die Durchsetzung der Gesetzgebung ausserhalb des Siedlungsgebiets kümmern. Wo diese Ressourcen bei den kantonalen Polizeikorps nicht vorhanden sind, ist zumindest in stark frequentierten Wäldern eine Naturaufsicht zu installieren, die Verfehlungen auch mit Ordnungsbussen sanktionieren kann. (Peter Brotschi)

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